Erfahrungsberichte aus Wellington

Newlands College: Marcella S

I'm going on an adventure!6 Monate in Mittelerde Es ist nicht so leicht, ein knappes halbes Jahr in ein paar Worte zu packen und man hat zu viele Erfahrungen gemacht, als dass man sofort weiß, wo man überhaupt mit dem Erzählen anfangen soll. Am Besten ganz vorne.
Meine Entscheidung, für ein paar Monate ins Ausland zu gehen, fiel schon Mitte der 9. Klasse, nachdem meine beiden Schwestern vor der Oberstufe bereits einen Austausch gemacht hatten. Nachdem ich ein paar  Prospekte durchgeblättert hatte, entschied ich mich letztendlich für die Organisation „iSt“, bei der ich mir den Zeitpunkt, die Länge meines Aufenthalts und die Schule aussuchen durfte. Ich wählte das Newlands College in Wellington und bereute es nie. Bei der Wahl berücksichtigte ich die Größe der Stadt und der Schule, die Anzahl der deutschen Austauschschüler, das Fächer- und AG-Angebot der Schule und last but not least die Länge der Schuluniform-Röcke ;)
Im Januar diesen Jahres hieß es endlich wie bei Bilbo Beutlin im „Hobbit“: „I'm going on an adventure!“ Dank einem Vorbereitungswochenende in Düsseldorf war ich auf dem Hinflug nicht auf mich allein gestellt, sondern kannte schon andere der Gruppe, die genauso wie ich ein Abenteuer in Neuseeland antreten wollten. Aufgeregt und nervös unternahm ich mit vierstündigem Aufenthalt in Singapur und zweitem Zwischenstopp in Auckland die 30-Stunden-Reise um die halbe Welt. 
Als ich dann endlich meine Gastfamilie traf, kam mir alles noch sehr unwirklich vor. Sitze ich hier wirklich 18739 km von zuhause mit einer fremden Familie beim Abendessen und werde für die nächsten drei Monate hier leben? Der Anflug von Heimweh wurde jedoch schnell durch die Spannung auf das Land, die Leute und die Erlebnisse davon geblasen. Meine Gastfamilie half mir dabei, mich von Anfang an wohl zu fühlen. Meine Gastmutter Vicky, ihr Partner Geoff und ihre 13-jährige Tochter Brooklyn hießen mich gleich herzlich als Teil ihrer Familie willkommen. Dennoch war ich froh, dass ein anderes deutsches Mädchen, deren Gastfamilie noch im Urlaub war, für die erste Woche bei mir wohnte, sodass wir uns gegenseitig beim Englischreden und Verständnisproblemen aushelfen konnten. Meine Gastschwester Brooklyn verstanden wir zu Beginn nämlich beide nur mit größter Anstrengung, da sie sehr schnell und eher „Slang“ sprach. An den neuseeländischen Akzent muss man sich, wenn man nur das britische Schulenglisch oder amerikanisches Englisch aus Hollywood-Filmen kennt, sowieso erst gewöhnen. „Yis“ und „siven“ statt „yes“ und „seven“ sowie neue Vokabeln z.B. „Togs“ für Schwimmsachen, „Jandals“ für Flip Flops oder Maori Formulierungen, die geläufig sind, obwohl nicht mehr viele die Ureinwohnersprache sprechen, mussten erst einmal gelernt werden. 
Dazu hatten wir einen einwöchigen Vorbereitungskurs im „Wellington Girls' College“ mit ca. 40 deutschen Austauschschülern aus vielen anderen Schulen und Städten. Nach dem Unterricht über neuseeländische Geschichte, typische Ausdrucksweisen und ein paar Tipps über die Lebensweise der Kiwis (Neuseeländer) am Morgen, folgte am Mittag das Kennenlernen meiner neuen Heimatstadt Wellington. Der Tag endete pünktlich so, dass man zum Dinner um Punkt 6 Uhr mit dem Bus nach Hause fahren konnte. Wie wir lernten, ist es in Neuseeland üblich, sich beim Busfahrer zu bedanken: „Cheers, Driver!“ wird laut durch den Bus gerufen, auch wenn man hinten aussteigt. Kein Wunder, dass wir Deutschen in Neuseeland als unhöflich gelten. Der erste Schultag rückte langsam näher. Da es auf meiner Schule ca. 30 Internationals aus vielen Ländern (China, Japan, Vietnam, Thailand, Papua-Neuguinea, Indonesien, Brasilien etc.), darunter sechs Deutsche gab, fand ein entsprechendes Programm für die Neuankömmlinge in diesem Schuljahr statt. Das „International-Komitee“ organisierte nach einer Führung über das Schulgelände einen gemeinsamen Ausflug in die Stadt, zum Strand und „Cable Car“-Lookout und jedem wurde ein eigener neuseeländischer „Buddy“ zugeteilt. Sarah half mir, mich zurechtzufinden und in den Pausen war ich immer bei ihr und ihren Freunden willkommen. So hatte ich von Anfang an Kontakt zu den Kiwis und die Sorge, nur mit Internationals befreundet zu sein, blieb unbegründet. Die ersten Tage ging ich auch mit meinem Buddy in den Unterricht, bis mein eigener Stundenplan zusammengestellt wurde.
Da ich sozusagen freie Wahl hatte und für mich nur Mathe, Englisch und Sport Pflicht waren, wählte ich außerdem Musik, Kunst, Fotografie und Science, was ich aber ganz schnell zu Media Studies umwählte. Stromkreise waren mir dann doch zu langweilig und so bekam ich unter anderem die Möglichkeit, ein Wochenende in der Schule zu übernachten, um beim 48-hour-Filmmaking-Festival einen Kurzfilm zu drehen. Offiziell war ich in der 11. Klasse, da dort jeder mit 5 in die Schule kommt und dann 15 Jahre alt war, so wie ich. Fotografie, Media Studies und Mathe hatte ich jedoch mit den 12ern. Vom Stoff her kann man den Unterricht mit dem in der 10. hier vergleichen. Vor allem in Mathe fiel der einseitige Frontalunterricht auf, bei dem der Schüler lediglich zuhören, mitschreiben und in Ruhe eigene Aufgaben rechnen musste. Abgesehen davon war der Unterricht meist locker und der Umgang zwischen Schülern und Lehrern eher freundschaftlich. Auch mit elektronischen Geräten drückten sie öfters ein Auge zu. Denn da es überall auf dem Schulgelände freies WLAN gab, wurde das von allen Smartphonebesitzern natürlich auch ausgenutzt. Ob das so lerneffektiv ist, darüber lässt sich streiten... Ich hatte mich schnell an den Schulalltag gewöhnt und die Schuluniform (bestehend aus schwarzen Lederschuhen, extra Schulsocken, einem karierten Rock, einem weißen Hemd, einem knatsch-blauen Pulli mit Schulwappen drauf und optionaler Krawatte) gefiel mir von Tag zu Tag besser. Man kann sich kaum vorstellen wie entspannend es ist, morgens nicht mehr vor dem Kleiderschrank stehen zu müssen und zu überlegen, was man heute anzieht, was dem Wetter entspricht oder ob dies oder jenes passend für die Schule ist. Ich hab die Uniform richtig zu schätzen gelernt und sie vom ersten Tag an in Deutschland vermisst. Gleich im Februar fand „Tabloids“, der Sporttag, statt, bei dem zum ersten mal die „Häuser“ zur Geltung kamen. Wie bei Harry Potter waren alle Klassen in vier verschiedene Gruppen aufgeteilt. Grün, rot, blau und gelb, benannt nach den heimischen Bäumen Totara, Rimu, Matai und Kowhai. Im Wettstreit gegeneinander wurden auf den riesigen Feldern der Schule verschiedene Spiele und Sportarten (Rugby, der Nationalsport, kam dabei nicht zu kurz) gespielt – verkleidet. Jeder kam stolz seine Hausfarbe vertretend, manche sogar in Ballkleidern, als aufwendig gebastelte Legofiguren, Teletubbie, Cowboy oder einfach nur als Pirat, um „Hauspunkte“ abzusahnen. Ein kleiner Ersatz für Karneval, auf das ich dieses Jahr (vielleicht sogar gerne) verzichten durfte. 
Nicht nur bei diesem Ereignis wurde schon Wochen vorher überlegt, was man anziehen sollte. Auch „Mufti-Days“, die Tage, an denen man keine Schuluniform anziehen musste und stattdessen für 2 $ (zugunsten Schulprojekten) in Alltagskleidung/Mufti kommen durfte, konnte ich zwei mal miterleben. Für alle war es immer etwas ganz Besonderes und jeder fieberte wochenlang darauf hin, endlich das tragen zu können, was er wollte und seinen eigenen Kleidungsstil zu zeigen. Damit mir nach der Schule (jeden Tag von 8.40 bis 3.10 Uhr, außer Donnerstag, da erst ab 9.10 Uhr) nicht so langweilig wurde und, um etwas Neues auszuprobieren, nahm ich beim Dragonboating teil. Zweimal die Woche fuhren wir direkt nach der Schule mit dem Bus zum Training in den Hafen. Aufgeteilt in zwei lange Boote mit jeweils 20 Leuten arbeiteten wir hart dem Dragonboat-Festival im März entgegen. Das war sicherlich eines der Highlights meines Aufenthalts, auch wenn wir (von 13 Teams) knapp am Siegertreppchen vorbei ruderten. Außerdem war ich im 2. Term Teil der Fußballmannschaft, was für mich als eher passive Sportlerin, auch etwas Neues war. Der Erfolg blieb dabei jedoch aus... (Fraglicherweise höre ich, seit ich wieder zurück bin, nur noch von Siegen meiner Mannschaft aus Neuseeland... Das gibt mir zu denken :D)
Fußball war jedoch auch dort nicht der typische Frauensport. Allein an meiner Schule, die von der 9. bis 13. Klasse ging, gab es elf Netball (Netzball) Teams. Man muss dazu sagen, dass niemand in einem Verein, sondern für die Schulmannschaft spielt. Nachdem meine Gastschwester mir die Regeln erklärt hatte („WHAT?! You've never heard of Netball??!“), stand ich am Wochenende sogar um 7 Uhr für sie auf, um mit zu ihren Spielen zu fahren. Und das will schon was heißen... Wenn ich mich nach der Schule mal nicht mit Freunden traf, wartete Brooklyn schon zuhause auf mich, denn seit ich ihr „Ligretto“ als Gastgeschenk mitgebracht hatte, war sie völlig vernarrt danach. Mit ihr konnte ich über alles reden und die 1 1/2 Jahre Altersunterschied bemerkte man meist kaum. Sie ist eine richtige kleine Schwester für mich geworden und ich hab sie wirklich ins Herz geschlossen. Auch in der Schule fand ich schnell sehr gute Freunde, doch mein Abschied war gar nicht mehr allzu weit in der Ferne. Meine (richtige) Familie hatte geplant, mich an Ostern für eine Rundreise durch Neuseeland abzuholen und danach gemeinsam nach Hause zu fliegen. Aber es gefiel mir einfach zu gut und der Traum sollte dank meiner Eltern noch kein Ende haben :) Nach vielen langen Skype-Gesprächen hatte ich mich dazu entschlossen auf ein halbes Jahr zu verlängern und dafür, so leid es mir auch tat, sogar auf die Abschlussklassenfahrt nach Berlin meiner Klasse in Deutschland zu verzichten. 
Man lernt immer wieder dazu, denn hätte ich von vornherein gewusst, dass ich länger bleibe, hätte ich bei der Schulproduktion, dem Musical „Wizard of Oz“, mitmachen können. Mit 5 ausverkauften Aufführungen war sie ein voller Erfolg, aber selbst das Zuschauen machte viel Spaß. Es war üblich, dass fast die halbe Schule beteiligt war und da Gesangsunterricht während der Schulzeit angeboten wurde und es einige Naturtalente gab, war auch die Qualität sehr gut. In den Termbreak-Ferien (zwischen den 1. und 2. Schulvierteljahren) lernte ich mit meiner Familie die Nord- und Südinsel kennen. Neuseeland bietet auf seiner 268.680 km² Fläche (etwas kleiner als Deutschland und so groß wie Italien) nicht nur goldene Sandstrände und türkisblaues Meer, sondern auch karge Vulkanlandschaften, unterirdische Glühwürmchenhöhlen, aus dem Boden qualmende Schwefel-Städte, glasklare Seen, Fjorde, Urwälder, Weinanbaugebiete, Gletscher und nicht zu wenige weitläufige, grüne Hügel mit tausenden von Schafen (mehr als 10x so viele wie Einwohner). Von den vier Millionen Menschen leben  eine Million in Auckland, zwei Millionen auf der restlichen Nordinsel und nur eine Million auf der größeren Südinsel, weshalb viel Platz für unberührte Natur bleibt. Neben den atemberaubenden Landschaften war natürlich auch “Hobbiton”, der Drehort der “Herr der Ringe” und “Hobbit” Filme, eines der Reise-Höhepunkte. Auf Bungeejumping und Skydiving hab ich allerdings verzichtet... Die gastfreundlichen Kiwis trugen dazu bei, dass man sich sicher und richtig wohl fühlte. Sie sind offene, herzliche, relaxte Menschen und viel kontaktfreudiger, toleranter und interessierter als der typische Deutsche und dazu noch Profis im Small-Talk! Es war nicht selten, dass man nach einem Einkauf die halbe Lebensgeschichte des Verkäufers kannte...
In diesem multikulturellen Land leben Menschen vieler verschiedener Abstammungen. In meinem Freundeskreis kamen einige von den Philippinen und Samoa. Ebenso hatte ich Freunde, deren Familie aus Sri Lanka, Malaysia, Chile, Fiji, Tonga und Vietnam stammten, die aber in Neuseeland aufgewachsen waren. Im Gegensatz zu meiner Heimatstadt Trier, wo es etwas Besonderes ist, wenn ein Elternteil aus einem anderen Land kommt, gefiel mir die Abwechslung der Kulturen- und Religionenvielfalt gut. Meine samoanische Freundin Fiti nahm mich Freitag abends in den Jugendgottesdienst ihrer christlichen Gemeinde mit. Es war eine ganz neue Erfahrung, im Gottesdienst persönlich angesprochen und aufgenommen zu werden, was für mich ein ergreifendes Erlebnis war. Man erlebte die Gemeinschaft viel intensiver und kam sich gleich als Teil der Gemeinde vor. So viele begeisterte Jugendliche bin ich in der Kirche bei uns gar nicht gewohnt.
Nach unserem Familienurlaub genoss ich noch zwei Monate mein Leben am anderen Ende der Welt. Der Schulball war mit Ballkleidern, aufwändigen Frisuren und der Wahl des „Best Matching Couple“, „Wow-Effect“, „Leading Ladies“ und der „Leading Gentlemen“ ein typisch amerikanisches Ereignis.
Als die Zeit sich dem Ende näherte, fiel mir mein Abschied ziemlich schwer. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich wahrscheinlich gleich nochmal verlängert, aber meine Familie und Freunde in Deutschland hatte ich natürlich schon vermisst und es ist auch wieder schön hier zu sein! :) So bin ich im Januar nicht nur dem schrecklich langen Winter entwichen, sondern kam auch pünktlich zum Sommeranfang zurück, wo hingegen es im sogenannten „Windy Wellington“ immer kälter wurde und es einmal wegen eines Sturmes und Stromausfall sogar schulfrei gab. Neuseeland wäre immer wieder das Land meiner Wahl und nicht nur ein Urlaub dort ist, wenn sich die Gelegenheit bietet, für jeden weiterzuempfehlen. Ein Austausch, wenn auch in einem anderen Land, bringt tiefen Einblick in fremde Kulturen, ein besseres Verständnis einer neuen Sprache, (hoffentlich) lebenslange Freunde, Selbstvertrauen sowie viel Selbständigkeit und war für mich – auch wenn es sich dramatisch anhören mag – bisher mit Abstand die beste Erfahrung meines Lebens! „Can you promise I will come back?“ Gandalf: „No. And if you do, you will not be the same.“ („The Hobbit“) 

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